The roaring seventies – RAF
Gestern habe ich mir im Fernsehen den „Baader-Meinhof-Komplex“ angesehen. Und danach konnte ich nicht anders, als noch stundenlang im Internet zu surfen um zu recherchieren. Von archivierten Interviews mit Peter Homann und Irmgard Möller zum Blog von Bettina Röhl, zur Homepage von Klaus Röhl bis zur Buchbesprechung von Alice Schwarzer. Mich hat der Film sehr aufgewühlt, denn er hat meine Erinnerungen an diese bewegte Zeit wieder geweckt.

Ich war ungefähr 10 Jahre alt, als die RAF – damals als „Baader-Meinhof-Bande“ bezeichnet – regelmäßig die Titelseiten der Bildzeitung zierte. Bei Nachfragen an die Erwachsenen wurde stereotyp die Antwort gegeben: „das sind Verbrecher, die wollen die Gesellschaft kaputt machen“, womit ich als Kind nicht viel anfangen konnte.

Als ich dann im Alter von 12/13 Jahren begann, mich für Politik zu interessieren, konnte ich immer noch nicht viel mehr mit der „Baader-Meinhof-Bande“ anfangen. Aber irgendwie erweckte es mein Interesse, dass die gesamte Erwachsenenwelt diese Menschen am liebsten an die Wand gestellt hätte. Schon als Kind war es mir immer verdächtig, wenn alle gemeinsam gegen etwas Front machen – mit anderen Worten, irgend etwas stimmte dann nicht. Schriftsteller, die ich gerade im Deutschunterricht kennen- und schätzen gelernt hatte, wie z.B. Heinrich Böll und Siegfried Lenz, schienen Verständnis für die RAF zu haben, was mir zu denken gab.

Im Politikunterricht sprachen wir dann über den im Hungerstreik verstorbenen Holger Meins. Zwangsernährung, der Ruf nach Todesstrafe und die Macht der Medien und Bölls Film „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ waren unsere Themen. Und ich wusste immer noch nicht, wie ich zu der RAF stehen sollte. Einerseits gaben sie meinem Gerechtigkeitssinn Ausdruck, andererseits machte mir die Gewalt Angst.

Als ich dann im Alter von 18 Jahren in die Oberstufe kam, fand gerade die Entführung der Landshut statt und Arbeitgeberpräsident Schleyer befand sich schon einige Wochen als Geisel in den Händen der RAF. Und dann kam irgendwann morgens im Radio die Meldung, dass die Landshut von der GSG 9 befreit worden war, Schleyer ermordet aufgefunden wurde und sich Baader, Ensslin und Raspe das Leben genommen hatten. Unser Soziologielehrer war davon tief betroffen, denn es handelte sich um Menschen, mit denen er zur gleichen Zeit studiert hatte und die genau wie er zur Studentenbewegung gehörten. Ich erinnere auch noch die Entrüstung einer Mitschülerin darüber, dass die Medien die Befreiung der Landshut feierten, obwohl doch drei Terroristen tot waren und es sich dabei doch um Menschen handelte. Es war ein Sakrileg, mit den Opfern zu fühlen.

Und das war mein Grundgefühl in Bezug auf die RAF: es gab nur schwarz oder weiß. Wer die RAF ablehnte, wurde unweigerlich ins Lager der Ultrarechten, der Bildzeitungsleser und der Kapitalismusfans eingeordnet. Dies hat jede wirkliche Auseinandersetzung vollkommen unmöglich gemacht.

Heute als Erwachsene kann ich mir erlauben, mich über diese erbärmliche Schwarz-Weiß-Malerei hinweg zu setzen. Und heute kann ich die RAF als das zu bezeichnen, was sie in meinen Augen immer schon war: ein riesengroßer Irrtum. Ein Irrtum, der allerdings nicht als Irrtum begann, sondern als mahnende Stimme. Als Stimme, die vor dem großen Vergessen der Tragödie des Dritten Reichs warnen wollte. Als Stimme, die gegen die Gleichgültigkeit des großen Mordens in Vietnam mahnte. Als Stimme, die auf all diejenigen hinweisen wollte, die in unserer Gesellschaft Ungerechtigkeit erfahren.

Warum ist aus einer mahnenden Stimme ein Irrtum geworden? Warum sind letztendlich die Unterschiede zwischen denen, die bekämpft wurden und denen, die kämpften, bis zu Unkenntlichkeit verwischt? Der Grund liegt darin, dass Menschen ihre ganz persönliche Tragödie zur politischen Tragödie gemacht haben. Weil ausgeblendet wurde, dass Veränderung nicht nur im Rahmen der großen Ideen und der Weltpolitik erfolgen kann. Sich im alltäglichen Miteinander gewalttätig und menschenverachtend verhalten und gleichzeitig eine humanere Welt anzustreben – das hat noch nie funktioniert und wird auch nie funktionieren. Das Private völlig ausblenden, um sich heroisch den höheren Idealen zu opfern, das blendet auch die eigenen Unzulänglichkeiten aus und oftmals steckt dadurch hinter einem heroischen politischen Akt in Wahrheit nichts anderes als ein höchst persönlicher Rachefeldzug. Gegen die Eltern, gegen schmerzhafte menschliche Beziehungen und gegen die Ohnmacht, sein Leben den eigenen Wünschen entsprechend so zu gestalten, dass Glück möglich ist.

So wie es einen Rückzug ins Private gibt, so gibt es auch einen Rückzug ins Politische. Wenn man unter den Beziehungen in seinem unmittelbaren Umfeld leidet und keinen Einfluss darauf nehmen kann, sucht man die Lösung im weiter Entfernten und im Abstrakten. Und Ulrike Meinhof ist hierfür ein typisches Beispiel. Verheiratet mit einem Mann, der ihre Tochter und Stieftochter sexuell missbrauchte und in dessen Zeitschrift „konkret“ oder „das da“ die Artikel von Männern geschrieben wurden und Frauen nur in erbärmlicher Weise in Form von Pornos auftauchten. Es ging den Herrn Journalisten um die großen Menschenrechte und um die große Gleichheit - allerdings nie die der Frauen – denen wurde in diesen Zeitschriften die gleiche Rolle wie schon seit Jahrtausenden zugewiesen, die sich darauf beschränkte, Männern zu gefallen und ihnen zur Verfügung zu stehen.

Wie konnte eine sensible und hochintelligente Frau wie Ulrike Meinhof mit so einem Menschen zusammen leben? Mit einem Menschen, der andere auf ihren Nutzwert begrenzt. Mit einem Menschen, der Jahre später vom überzeugten Kommunist zur FDP wechselte. Für den es kein Problem war, für die BILD-Zeitung zu arbeiten, obwohl er diese Jahre zuvor massiv bekämpfte. Und wieso war es möglich, dass sich eine Frau wie Ulrike Meinhof in eine Dumpfbacke wie Andreas Baader verliebte, der schon mal gern die Frauen um sich herum als Fotzen bezeichnete? Der schon immer eine Faible für Gewalt hatte und für den die RAF daher wie gerufen kam.

„Auch das Private ist politisch“ – diese Erkenntnis wurde erst Jahre später entwickelt. Zu Zeiten der RAF galt das Private einfach nur als nicht existent. Sowohl Gudrun Ensslin als auch Ulrike Meinhof und Andreas Baader haben ihre Kinder verlassen und von anderen aufziehen lassen. Warum auch nicht? Diese banalen kleinbürgerlichen Verpflichtungen müssen zurückstecken, wenn es um das große Ganze geht. Das war ja auch der immer wiederkehrende Streitpunkt in den ideologischen Diskussionen. Wenn es tatsächlich dazu kam, dass jemand moralische Skrupel hatte, dann wurde dies mit aller Härte bekämpft, denn moralische Skrupel waren ein Indiz dafür, dass jemand noch zu sehr im Persönlichen verhaftet war und noch nicht reif war für die völlige Hingabe an das große ideologische Ziel.

Das große revolutionäre Ziel für eine bessere Welt wurden von Menschen angestrebt, die in ihren persönlichen Beziehungen gescheitert waren. Wer nicht in der Lage ist, den einzelnen Menschen respektvoll und menschlich zu behandeln, der sollte die Finger davon lassen, etwas für die Menschheit tun zu wollen. Für mehr Humanität kann man nicht mit Inhumanität kämpfen. Und gefährlich ist auch die Illusion des Auserwähltseins, in die die RAF verfiel. Den Kampf, den die RAF geführt hat, hat sie nur für sich selbst geführt und für sonst niemanden. Niemand wollte die Bombenanschläge. Niemand wollte die Morde. Die Idee vom Auserwähltsein für den Kampf gegen das Böse endete in einer Sackgasse.