Benjamin Stein: Die Leinwand – ein Roman des Zweifelns
Normalerweise lese ich Bücher sehr langsam und lege sie oftmals angelesen für Monate beiseite um sie dann später wieder weiter zu lesen, denn ich habe schon seit längerem eine Art Lesehemmung. Aber am Wochenende war es anders. „Die Leinwand“ von Benjamin Stein habe ich an knapp zwei Tagen durchgelesen.

Ein sehr ungewöhnliches Buch. Es gibt zwei verschiedene Erzählungen, die man von beiden Seiten zu lesen beginnen kann. In der Mitte treffen sich die beiden Erzählungen. Das Buch lässt den Leser eintauchen in die jüdische Welt und man erfährt viel über jüdische Bräuche und jüdische Mystik. Es gibt zwei jüdische Protagonisten, deren Lebenswege sich irgendwann kreuzen. Beide lieben Bücher und beide sind in ihrer Jugend durch Reglementierungen daran gehindert worden, sich ihren Lesestoff frei zu wählen.

Am Ende sind dem Leser einige Dinge klar, aber viele Fragen bleiben offen. Es geht in dem Buch in erster Linie um die Unzuverlässigkeit und die Subjektivität unserer Erinnerungen. Während die erste Hauptfigur, der Arzt Amnon Zichroni, die außergewöhnliche Gabe besitzt, die Erinnerungen anderer Menschen mitzuerleben, leidet Jan Wechsler, die andere Hauptfigur, offenbar an einem erheblichen Verlust seiner Erinnerungen und weiß nicht mehr so recht, wer er eigentlich ist. Anscheinend verschmelzen irgendwann die Erinnerungen beider Hauptpersonen zu einer einzigen Identität. Und es gibt eine dritte Hauptperson, die die eigenen Erinnerungen so umgewandelt hat, dass sie für die Außenwelt ein Lüge darstellen, durch die seine Existenz schließlich zerstört wird.

Wie ich erst nach dem Lesen des Buches herausgefunden habe, steckt hinter der dritten Hauptperson die reale Person des Binjamin Wilkomirski, der detailliert seine Kindheit in verschiedenen KZs beschrieben hat, in denen er nachweislich jedoch niemals war. Anscheinend wurde bis jetzt nie geklärt, ob Wilkomirski absichtlich gelogen hat, oder aber ob er tatsächlich überzeugt ist, die von ihm beschriebenen Ereignisse so und nicht anders erlebt zu haben. Verwirrend an der Erzählung ist, dass die Biographie des Schriftstellers Jan Wechsler Ähnlichkeiten mit der des Autors hat – deren Realität aber wiederum in der Erzählung letztendlich in Frage gestellt wird.

Gleich am Anfang des Buches hat mich eine Aussage sehr beeindruckt: „Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was wirklich geschehen ist? “.

Dies hinterläßt mehr Zweifel als Klarheiten. Dass die Wirklichkeit möglicherweise ganz anders ist, als das, was wir als Wirklichkeit wahrzunehmen scheinen, taucht sowohl im Buddhismus als auch in der abendländischen Philosophie auf und ist somit keine Neuheit. Aber das Ungewöhnliche an diesem Buch ist, dass man hier in diese Vorstellung hautnah hineingezogen wird. Man beginnt zu zweifeln und grübeln und versucht, sich eine plausible Lösung zu schaffen. Es steckt ganz tief in unserem menschlichen Wesen, wissen zu wollen, was wahr ist und was nicht. Und wenn es so ist, wie es dieses Buch schildert, dann ist Wahrheit immer etwas zeitlich Begrenztes und wird durch unsere Erinnerung gewandelt. Und da wir alle unsere eigenen Erinnerungen haben, wird diese Wahrheit niemals den Anspruch des Absoluten erfüllen können.

Ganz schon verwirrend. Habe gleich demjenigen, der mir das Buch geschenkt hat, gemailt und etliche Fragen gestellt.