Requiem für meine Freundin
Es gibt zwei Arten, jemandem ein Requiem zu widmen. Man kann sich in erster Linie dem Verstorbenen widmen oder aber man widmet sich der Beziehung und der Bedeutung des Verstorbenen für das eigene Leben. Ich werde es nicht schaffen, über Dich zu schreiben ohne über Deinen Einfluß auf mich. Wichtig ist mir einzig und allein eins: Authentizität.

Wir hatten oft jahrelang keinen Kontakt und dann rief wieder eine von uns an. In unserem Leben als Erwachsene haben wir nicht viel geteilt. Was uns aber immer wieder verbunden hat, ist ein Teil der gemeinsamen Kindheit. Auch hier geht es nur um eine kleine Zeitspanne, denn Kinder müssen ungefragt mit ihren Eltern umziehen und das hat uns beide für lange Zeit getrennt.

In der ersten oder zweiten Klasse kamst Du zu uns nach Neuenfelde. Ende der sechsten Klasse zogst Du dann fort nach Göttingen. In diesen 5 Jahren waren wir Verbündete. Man kann sich nur gegen etwas verbünden und nicht für etwas. Ich glaube, wir haben uns gegen die geistige Enge verbündet, die in einem Dorf herrscht, in dem die Frauen ihren Lebenssinn im Putzen und sehen und die Männer im Bauen von Häusern.

Bevor ich Deine Mutter kennenlernte, war mir unbekannt, daß sich Frauen auch für Gesellschaft und Politik interessieren können. Deine Mutter hatte Ethnologie studiert und war so ziemlich an allem interessiert, was in dieser Welt geschieht. Erst viel später hast Du mir gesagt, daß diese Eigenschaft Deiner Mutter für Dich auch wie ein Fluch war, denn jeder war von ihr beeindruckt und niemand hat gesehen, wieviel Dir trotz allem fehlte und wie der Glanz Deiner Mutter manchmal auch zum Schatten für Dich wurde.

In einer Zeit, in der jeder die ersten, nach Deutschland eingewanderten Ausländer argwöhnisch beäugt hat, hat Deine Mutter Dir erklärt, wie schwer es für ein Kind ist, in einem fremden Land zu leben. Du warst die Erste und lange Zeit die Einzige, die Sevim zum Geburtstag eingeladen hatte. Wie Sevim mir auf Deiner Trauerfeier erzählte, war es für Dich etwas Spannendes, bei ihr das erste Mal gefüllte Weinblätter zu essen und sie war beeindruckt von den Kartoffelpuffern, die Deine Mutter für Euch briet. Und bei unserem letzten Beisammensein auf Deinem 50. Geburtstag hast Du dann nochmals ausdrücklich betont, wie Du es genossen hast, als Kind durch ein anderes Kind etwas völlig Neues und Fremdes kennengelernt zu haben. Ich schäme mich, wenn ich vor meinem geistigen Auge Dich als kleines Kind sehe neben einigen meiner erwachsenen Kollegen, die auf menschenverachtende Weise über Ausländer herziehen, ohne daß irgend jemand von ihnen auch nur im geringsten Anstoß daran nehmen würde.

Und dann erinnere ich mich noch wie heute, als Du mit unserer Grundschullehrerin Fräulein Mohrdieck in Streit gerietst. Der genauen Grund erinnere ich nicht mehr, nur daß Du widersprochen hattest. Das durfte man nicht in einer Neuenfelder Schule, in der noch der Rohstock geschwungen und im Unterricht gebetet wurde. Du hattest Dich dann geweigert, wieder in den Klassenraum zu kommen. Als Fräulein Mohrdieck Dich mit Gewalt hineinzerren wollte, gelang es ihr nicht, so daß sie schließlich den Schulleiter holte. Gemeinsam zogen sie dann mit aller Kraft an Dir, die sich an einem Heizkörper festkrallte. Und soviel sie auch zogen und so unglaubwürdig es sich anhört – die zwei viel größeren und stärkeren Erwachsenen schafften es nicht! Ich war als einziges Kind aus der Klasse bei Dir geblieben und hatte die Situation aus nächster Nähe miterlebt. Fräulein Mohrdieck redete dann auf mich ein und gab mir den Auftrag, Dich zu überreden, wieder in die Klasse zurückzukehren. Ich war mit der Situation ziemlich überfordert aber nachdem Du Dich nach einiger Zeit wieder beruhigt hattest, kehrten wir tatsächlich wieder in den Klassenraum zurück.

Vor etwa 8 Jahren, als unsere inzwischen 89jährige Klassenlehrerin schon in einem Altenheim lebte, hattest Du (oder war ich es?) die Idee, Fräulein Mohrdieck zu besuchen, was wir dann auch taten. Merkwürdig, ich hatte Fräulein Mohrdieck noch einige andere Male zu ihrem Geburtstag besucht, aber nie war jemand von ihren Lieblingsschülern dort. Selbst am 80. und 90. Geburtstag sah man keinen von ihnen. Etwas, über das ich immer wieder nachdenke und das für mich einen schon fast philosophischen Charakter hat: Beziehungen, die auf Angst und Kuschen beruhen, sind nicht verläßlich. Unsere alte schrullige Lehrerin wurde letztendlich von ihren Lieblingen allein gelassen und nur die enfants terribles erinnerten sich ihrer. Um Dich nicht zu verletzen, habe ich Dir nie erzählt, daß Fräulein Mohrdieck meiner Mutter gesagt hat, Du wärst kein Umgang für mich. Aus der jetzigen Sicht eines Erwachsenen eine schändliche Sache, einem Kind die beste Freundin abspenstig zu machen.

Ich merke, wie ich es nicht länger hinausschieben kann, über das zu schreiben, was Deine Kindheit, Deine Jugend und Dein Erwachsenenalter wie ein Albtraum geprägt und überlagert hat. Du wurdest im Alter von 8 Jahren von Deinem Stiefvater mißbraucht. Als Deine Mutter zur Geburt Deiner kleinen Schwester Claudia im Krankenhaus war, kam Dein Stiefvater nachts in Dein Zimmer. Du hattest es mir zu unserer Neuenfelder Zeit nie erzählt. Ich weiß nicht, ob Du es damals überhaupt jemandem erzählt hast. Mir hast Du es erst erzählt, als wir zwölf Jahre alt waren und ich Dich in Göttingen besuchte. Mir wurde Angst und Bange, als Du mich batest, mit in den Keller zu kommen um etwas zu besprechen, was niemand hören durfte. Als Du davon erzähltest, weintest Du und ich stand wie erstarrt neben Dir. Ich glaube, niemand hat je so kläglich versagt, wie ich in dieser Situation. Ich wollte am liebsten von alledem nichts hören und sehen. Und es war abstoßend, noch die gesamte gemeinsame Woche zusammen mit Deinem Stiefvater zu verbringen. Mit einem Mann, der tagsüber das Leben eines gesellschaftlich anerkannten Mannes führt und der sich nachts an einem kleinen wehrlosem Kind vergreift.

Viel, viel später Du bist Du dann ganz offensiv mit diesem Albtraum umgegangen. Du bist sogar gemeinsam mit Deiner Therapeutin zu Deinem Vater gefahren um ihm den Albtraum auf den Kopf zuzusagen – so daß er die Sache nicht mehr leugnen konnte. Trotzdem blieb der Albtraum ein Albtraum und hat Dich Dein Leben lang verfolgt. Eine nie verheilende blutende Wunde. Ein Vertrauensbruch, wie er schändlicher nicht hätte sein können. Ein Kind vertraut seinem Vater und ist ihm ausgeliefert. Und gerade dieser Mensch, der sein Kind schützen und umsorgen soll, nutzt dieses Vertrauen aufs Ekelhafteste aus. Ich denke immer wieder darüber nach, ob es überhaupt möglich ist, mit so einem Erlebnis weiterzuleben. Du hast verschiedene Versionen des Umgangs damit versucht. Als Jugendliche hast Du Dich offen gegen Deinen Stiefvater gestellt. Später, als Du erwachsen warst, hast Du den Wunsch nach Verzeihen gehabt. Aber ist das in diesem Fall überhaupt möglich? Tut man sich nicht gerade damit Gewalt an? Ich weiß es nicht.

Deine Mutter hat Deinen Aussagen nach keine eindeutige Partei für Dich ergriffen, als Du ihr von dem Mißbrauch erzähltest. Und das Schlimmste war, daß auch gar nicht mehr genug Zeit vorhanden war um den Albtraum mit ihr aufzuarbeiten, denn als Du 15 Jahre alt warst, verstarb Deine Mutter plötzlich. In den Wirren der Pubertät, in der ein Kind so dringend jemanden bräuchte, der Halt gibt, standest Du plötzlich allein da. Mit einem Stiefvater, der dich mißbraucht hatte, einen kleinen Bruder und einer kleinen Schwester, die behindert war und selbst sehr viel Zuwendung und Hilfe brauchte. Ich weiß nicht, wie Deine anderen Verwandten auf den Mißbrauch reagiert haben. Ich ahne aber, daß niemand die Courage gehabt hat, Deinen Vater auf sein entsetzliches Verbrechen hin anzusprechen. Mißbrauch und Mißhandlung sind schlimme Verbrechen. Das wirklich Grauenhafte ist aber erst das Wegsehen und das Totschweigen. Ein Kind ist dann nicht nur einem Täter ausgesetzt sondern auch noch seinen Komplicen.

Dann folgten Jahre, in denen wir nichts voneinander hörten. Und dann hast Du Dich wieder gemeldet und bist wieder nach Hamburg gezogen. Tatkräftig wie eh und je. Mit einem Berufsabschluß als Hauswirtschaftsleiterin und jeder Menge Energie, um die ich Dich immer beneidet habe. Später lerntest Du Deinen Mann kennen und bist dann irgendwann wieder aus Hamburg fortgezogen. Eigentlich war die Arbeit in der Küche auf Dauer viel zu schwer für Dich und so hattest Du auch einmal den Versuch einer kaufmännischen Umschulung gemacht. Wie ich erst jetzt von Deinem früheren Mann erfuhr, hast Du die Umschulung allerdings nie beendet. Das wundert mich nicht, denn ich könnte mir Dich auch nur schwer in einem Arbeitsbereich vorstellen, der nur so von Selbstüberschätzung und Berufsdünkel strotzt. Ein Bereich, in dem Arbeit für die meisten einfach nur Gelderwerb ist und die Gesprächthemen dadurch arg begrenzt sind. Du bist lieber in Deinen alten Beruf zurückgekehrt – trotz der viel härteren Arbeit und des viel geringeren Verdienstes.

Dein großer Wunsch nach einem Kind hat sich nicht erfüllt. Und gerade Dich hätte ich mir gut als Mutter vorstellen können. Die meisten Mütter machen bei ihren Kindern die gleichen Fehler, die schon ihre Mütter bei ihnen gemacht haben. Das wäre Dir aber wahrscheinlich nicht passiert, denn Du hast eisern und kritisch an Dir gearbeitet, und dadurch wäre es nicht zur der Selbstgefälligkeit gekommen, die vielen Müttern eigen ist.

Und vor etwa 10 Jahren warst Du dann wieder da. Du warst inzwischen geschieden und hast in einem schönen Hamburger Schwulencafé in der Küche gearbeitet. Inzwischen hattest Du auch wieder eine neue Beziehung. Dann hast Du Deinen ewigen Traum wahrgemacht: Du hast ein kleines Café eröffnet. Mit unendlich viel Arbeit und Liebe hast Du es restauriert und eingerichtet. Und mit viel Liebe die Menüs zusammengestellt. Du hast soviel Herzblut und Schweiß in Dein Café gesteckt, daß es niemand so wie Du verdient hätte, damit Erfolg zu haben. Aber es gibt viele Cafés in Hamburg und es gab die Umstellung auf den Euro, der die Cafébesuche seltener werden ließ. Und schließlich mußtest Du schließen und Du, die immer sparsam gelebt hatte, hatte plötzlich einen großen Berg Schulden. Du konntest nicht einmal mehr Deine Krankenkasse bezahlen und als Du dringend ärztlicher Hilfe bedurftest, wurde Dir - die ein Leben lang schwer geschuftet hat - diese verweigert. Warum hast Du mich nicht angerufen? Ich hätte mir das Sozialamt sofort vorgeknöpft.

Wir haben einmal gemeinsam einen Ausflug in unser Neuenfelde gemacht. Das ist das Eigentümliche an unserer Beziehung: Wir beide mußten als Kinder fortziehen aus Neuenfelde und wir haben beide immer das gleiche Gefühl von Wehmut darüber gespürt. Obwohl ich eingangs von der geistigen Enge des Dorflebens geschrieben habe, gibt es auch die andere Seite. Die Geborgenheit, die Kinder in einem Dorf erleben. Wir sind mit unseren Klappfahrrädern an die Elbe gefahren, sind im Winter von Eisscholle zu Eisscholle gesprungen (heute würde ich Todesängste haben, wenn ich Kinder dabei beobachten würde) und haben auf den Deichen gespielt. Wir sind bei den Schützenfesten stolz mit unseren Blumenkränzen den Schützen hinterher marschiert und wir haben mit unseren anderen Schulfreundinnen Kindergeburtstage gefeiert. Es gab Poesiealben mit Oblaten. Und just in diesem Augenblick in dem ich dies schreibe, fällt mir der Spruch ein, den Du in das Poesiealbum einer Klassenkameradin geschrieben hast. Du hast den damals beliebten Spruch „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold“ verändert in „Reden ist Gold – Schweigen ist Blödsinn“.

Vielleicht ist es das, womit Du mein Leben so beeinflußt hast. Das Aufbegehren. Das Anderssein. Das Nicht-hinnehmen-wollen von Mißständen. Wir mußten damals in der Schule, immer mit gefalteten Händen ruhig dasitzen, wenn wir mit unseren Aufgaben fertig waren. Das fiel uns beiden so schwer, denn wir beide haben immer viel geredet und viel herumgealbert. Am Anfang des Schuljahres durften wir uns unseren Tischnachbarn aussuchen, und wir hatten uns natürlich zusammen gesetzt. Nach knapp einer Woche wurden wir dann wieder auseinandergesetzt, weil wir nach Aussagen von Fräulein Mohrdieck den Unterricht störten. Ich wurde einmal bei so einer Trenn-Aktion neben den größten Langeweiler der Klasse gesetzt. Heinrich saß mit stoisch nach vorn gerichteten Augen und gefalteten Händen neben mir und ließ sich durch nichts von seiner Haltung abbringen – noch nicht einmal durch ein bei Jungen doch so beliebtes Autoquartett. Du schriebst mir dann kleine Zettel, auf die Du Deine Figuren gezeichnet hattest, die mich immer zum Lachen brachten.

Merkwürdigerweise träume ich immer noch von Eurem Haus. Völlig verwinkelt, mit einem sonnigen Hof, einem Fliederbaum, Schaukeln für uns Kinder und geheimnisvollen Abseiten zum Verstecken. Und viel schöner als die anderen Häuser in Neuenfelde. Ohne die dort übliche Sterilität und zwangsneurotische Sauberkeit. Und es gab Bücher. Keiner meiner Verwandten hatte ein einziges Buch in seiner Wohnung. Wozu auch? Aber dieses Haus war für Dich nicht nur eine Stätte Deiner Kindheit. Es war auch die Stätte, die Dein dunkles Geheimnis barg, von dem niemand wissen durfte.

Iris, ich bin traurig, daß ich Dir nicht die Freundin war, die Du verdient hättest. Auch ich habe grausame Gewalt in meiner Kindheit erlebt und auch ich kenne das unendlich schmerzhafte Gefühl, schon mit 15 Jahren völlig allein dazustehen. Aber ich habe anders reagiert und mich immer zurückgezogen und eingeigelt und mich vor allen, also auch vor Dir, zurückgezogen. Von uns beiden warst Du immer die Tatkräftigere. Die, die ihre Probleme angepackt hat. Ein Stehaufmännchen, wie Dein Bruder einmal treffend formuliert hat. Liegt es vielleicht auch daran, daß Du die ältere Schwester bist? Ich bin die verwöhnte jüngste Tochter und habe nie so wie Du für jüngere Geschwister sorgen müssen.

Du bist eine Geberin. Du hast nie jemanden hängen lassen, der Deine Hilfe brauchte. Als Deine Oma vor einigen Jahren dement wurde und Deine Verwandten damit überfordert waren, hast Du sie zu Dir genommen. Einen alten dementen Menschen zu pflegen ist ein Kraftakt, der die meisten an ihre Grenzen bringt. Das war auch bei Dir so, aber Du hast es durchgehalten und Deiner geliebten Oma ein Verbleiben in der Familie bis zum Ende ermöglicht.

Und Du warst eine ausgeprägte Antimaterialistin. Du hast zwar viel Freude an schönen Dingen und einer schönen Umgebung gehabt. Aber Du hast trotzdem nie dieses unselige Verlangen nach Besitz gehabt. Nach Anhäufen von Werten. Das hätte auch schon allein deswegen nicht funktioniert, weil Du Dein Geld ja nie für Dich behieltest, sondern anderen immer großzügige Geschenke und viele, viele kleine Aufmerksamkeiten gemacht hast. Heute habe ich nochmals mit Deinem früheren Mann telefoniert und auch hierüber gesprochen. Er sagte, daß dies vielleicht Deine Art war, Deinen Schmerz zu ertragen. Anderen helfen. Für andere da sein. Anderen etwas abgeben. Für andere die Hilfe anbieten, die Du selbst so vermißt hast. Dich hat man als Kind mit Deinem Schmerz allein gelassen. Und das, was Dein Vater Dir antat, war nicht nur ein Mißbrauch. Es war ein Verrat. Ein Verrat an der Seele eines Kindes. Es gibt nichts, was schlimmer hätte sein können.

Iris, manche Gedichte von Rilke scheinen für Dich geschrieben worden zu sein. Wenn Rilke schreibt: "Du hast so große Augen Kind; Du siehst gewiß nachts oft Gestalten" dann hat er von Dir geschrieben. Von Deinen großen, braunen Augen, die wohl in so manchen Nächten angstvoll groß aufgerissen waren.

Bei Deiner Trauerfeier stand neben Deinem Sarg ein Blumengesteck, das Dein früherer Mann geschickt hatte. Auf der Trauerschleife stand „Danke“. Es gibt sicher nicht viele Frauen, denen von ihren geschiedenen Männern ein Gefühl des Dankes ausgesprochen wird, wo doch Ehe bei vielen oftmals nur als Freiraum für Verletzung und Beherrschung des anderen genutzt wird.

Als ich vorgestern Deinen Sarg sah, konnte ich mir nicht vorstellen, daß Du dort drinnen liegen solltest. Du, die immer aktiv war. Die nie aufgegeben hat. Die immer wieder aufstand. Es gibt nichts, was mich tröstet. Gerade hattest Du die Zusage für eine neue Arbeitsstelle. Gerade hattet ihr Euch eine wunderschöne Wohnung auf dem Land gesucht. Gerade sollte wieder ein neuer Abschnitt beginnen.

Der Tod ist unberechenbar und grausam. Und mehr als ungerecht. In diesen Momenten verläßt mich jeder Gottesglauben. Ich glaube ohnehin nicht an ein lenkendes und handelndes Wesen. Nur an eine in allen lebendigen Dingen verborgene göttliche Kraft. Aber angesichts Deines Todes glaube ich nicht einmal mehr daran. Schön wäre es, wenn der Kinderglaube an ein Paradies wahr wäre. Dann wüßte ich Dich jetzt gut aufgehoben. Allerdings wären wir dann für ewig getrennt, da sich mir die Paradiestore nicht öffnen würden. Ich bin sehr viel hasserfüllter als Du. Ich hasse dort, wo Du schon längst verziehen hättest. Auch das ist ein Unterschied zwischen uns beiden.

Dein Tod ist für mich eine höchst persönliche Sache. Wir haben beide in diesem Jahr unseren 50. Geburtstag gefeiert. Ich stehe an einem Punkt, wo ich nicht mehr stehen will. Ich ertrage nicht mehr die vielen Menschen um mich herum, die auf erbärmliche Art dem Geld hinterherjagen. Die ein schon fast krankhaftes Desinteresse an allem haben, was nicht mit Geld oder zumindest mit dem eigenen Vorteil zu tun hat. Die feist und dumpf mit Freude ihren geistigen Stillstand zelebrieren. Menschen, die nicht einmal mehr den Hauch von Authentizität haben und deren einzige Sorge eine gefällige Außendarstellung, ein nach außen heiles Bild ist. Menschen, die auf erschreckende Weise Deinem Stiefvater ähneln, dessen heile, gesellschaftlich anerkannte Fassade einen Menschen birgt, der auf dem Seelenleben anderer herumtrampelt. Menschen, deren Rückgrad schon grausam verbogen ist. Anpassen. Stillhalten. Mund halten. Kuschen. Ich weiß, daß Du genauso wie ich unter meiner Situation leiden würdest. Aber wahrscheinlich würdest Du handeln. Etwas Beenden. Etwas Neues beginnen. Du würdest kämpfen.

Vor dem realen Hintergrund erbärmlicher Menschen sehe ich eine kleine Iris, die sich mit aller Kraft und mit vollem Erfolg gegen zwei Lehrer wehrt, die das kleine Mädchen irgendwohin ziehen wollen, wo es nicht hin will. Eine kleine Iris, die ins Poesiealbum schreibt „Reden ist Gold – Schweigen ist Blödsinn“. Eine kleine Iris, die einem ausländischen Mädchen helfen möchte, sich in einem fremden Land zurecht zu finden.

Ich bin sehr, sehr stolz, daß Du meine Freundin warst.




Drei Monate schon bist Du fort
Es ist jetzt drei Monate her, daß Du nicht mehr da bist. Das Wort "Tod" möchte ich vermeiden, denn zu Dir paßt der Tod nicht. Aber trotzdem ist Dein Tod in die Alltagsnormalität übergegangen. Es gibt Tage, wo ich wieder an Dich denke und Tage, an denen dies nicht mehr so ist.

Dein Tod hat etwas eigentümlich Mahnendes. Das Leben ist nicht unendlich. Bei Dir hatte ich nie das Gefühl, daß Du Dein Leben nicht gelebt hast. Trotz aller Widrigkeiten und aller Schicksalsschläge hast Du Dir nie den Mut nehmen lassen und hast das Leben angepackt. Deswegen traf uns alle Dein Tod auch wie ein Blitzeinschlag.

Ich werde Dir jetzt das Gedicht von Rilke rezitieren, das Rilke für Menschen wie Dich gemacht hat. Und auch für Menschen wie mich. Menschen, die unendlich viel Leiden in der Kindheit erfuhren. Mißbrauch und Mißhandlung. Und viel, viel Wegsehen von allen Seiten. Wir beide sind Expertinnen im Ertragen von Menschen, die weggesehen haben. Und denen nie auch nur ein Wort über die Lippen kam.

Eine Chance auf ein würdiges Leben hat nur der, der sich von Menschen, die ihm nicht guttun, fernhält. Sonst erwachen die Dämomen der Kindheit.

Die Mißbraucher. Die Mißhandler. Und vor allem die Wegseher. Die etwas hätten tun können. Die etwas hätten sagen können. Aber die aus vollster Überzeugung weggesehen haben. Die Schweiger, die großes Unglück durch Ihr Schweigen erst unüberwindbar gemacht haben. Die, die uns ihre erbärmliche Feigheit als eine Tugend verkaufen wollen. Die Tugend des Reinhaltens durch Leugnen.

Du hast so große Augen, Kind.
Du siehst gewiß oft nachts Gestalten,
die, fremd und bleich, in marmorkalten
Traumhänden rote Kronen halten,
um die ein Leuchten leise rinnt.
Dann ist dein Blick am Tag wie blind
und deine Seele wie zerspalten,
dann bangt dir vor dem Alltagsalten,
wenn Wunsche sich in dir entfalten,
die allen andern Wahnsinn sind.

Dann ist die Sehnsucht dir erwacht,
stolz zu entfliehn den eitlen Schreiern,
die plump, mit Händen, blöd und bleiern,
auf deiner Silberseele leiern
das irre Lied, das sterblich macht;
zu fliehn in eine blaue Nacht,
drin alle Wipfel lauschend feiern;
der Glieder Hymne zu entschleiern
und scheu im Schoß von weißen Weihern
zu finden ihre nackte Pracht.



Rainer Maria Rilke . 1875 - 1926

Dazu gibt es kaum mehr etwas zu sagen.