Samstag, 24. Juli 2021
Die Lust am Verbot oder wen canceln wir als nächsten?
Das Mitglied des Hertha BCS Aufsichtsrats Jens Lehmann musste gehen, weil er den Begriff "Quotenschwarzer" gegen Dennis Aogo verwendet hat. Dennis Aogo wiederum musste seine Beratertätigkeit bei Sky aufgeben, weil er den Begriff "Bis zur Vergasung" verwendet hat. In der Tat ist dies ein Satz, den man aufgrund seiner aus dem Dritten Reich stammenden Herkunft auf keinen Fall sagen sollte. Allerdings ist es Fakt, dass manchen Menschen der Ursprung dieser Redewendung nicht bekannt ist. Der Begriff "Quotenschwarzer" wiederum stellt eine Beleidigung dar, allerdings wird nicht die Hautfarbe beleidigt, sondern die Fähigkeit des Spielers, denn es wird unterstellt, dass dessen Aufstellung nicht aufgrund von guten Leistungen, sondern von Quotenregelung erfolgte. Schließlich äußert sich Grünenpolitiker Boris Palmer ironisch zu dem Rassismusvorwurf gegen Aogo und kassierte damit ein Parteiausschlussverfahren.

Empörung über Grünenpolitikerin Bettina Jarasch, die öffentlich von ihrem Kindheitstraum erzählte, Indianerhäuptling werden zu wollen. Da hilft es auch nichts, dass die Vorsitzende der Native American Association of Germany (Carmen Kwasny) diese Empörung als übertrieben einstuft und der Begriff sogar auf der betreffenden Website verwendet wird. Immerhin hat dies kein Parteiausschlussverfahren mit sich gebracht, sondern es wurde "nur" die entsprechende Passage der Rede zensiert.

Staatssekretärin Sawsan Chebli spricht von einem "mit einem nachhaltigen Schock verbundenen, noch nie erlebten Sexismus-Erlebnis ", als ihr der Vorsitzende einer Podiumsdiskussion sagt, er hätte "keine so junge und so schöne Frau" erwartet. Zugegeben - der Spruch ist völlig fehl am Platz. Aber ich kann aus eigener bitterer Erfahrung sagen, dass es jede Menge sexistische Sprüche gibt, gegen die das betreffende tollpatschige Kompliment eine Nettigkeit darstellt. Aber immerhin scheint der Betreffende nicht seinen Job verloren zu haben.

Einem Aldi-Filialleiter wird gekündigt, weil er einen pöbelnden Kunden rausgeschmissen hat. Dieser war zuvor lautstark pöbelnd mit anderen Kunden in Streit geraten, als einer der Kunden zu seinem Begleiter (nicht zu dem Betreffenden!) sagte, er wolle "Negerküsse" kaufen. Ja, dieses Wort sollte man nicht mehr verwenden, aber es ist fraglich, ob es angemessen ist, deswegen lautstark und endlos zu pöbeln.

Die Liste ließe sich noch unendlich fortführen. Aber ich höre jetzt schon die Einwände, dass alles im Kleinen beginnt und die Verwendung von Begriffen wie "Negerkuss" oder "Indianer" zwangsläufig ein Indiz für schlimmsten Rassismus darstellen und genauso zwangsläufig zu Apartheit führen, genauso, wie ein fehlplatziertes Kompliment unabwendbar die Stellung der Frau um mindestens zweihundert Jahre zurückwirft. Ist das tatsächlich und nachweisbar so?? Nein, ist es nicht. Auch wenn die Verteidiger der Political Correctness dies hartnäckig behaupten, so gibt es definitiv keinen überprüfbaren Nachweis dafür. Die Ursache von Rassismus und Sexismus liegt viel tiefer und ist vor allem sehr viel komplexer, als sie mit Redewendungen zu begründen. Und Probleme werden selten durch Verbote und Rausschmisse gelöst - im Gegenteil, dies schafft lediglich ein Klima der Befangenheit und Angst, welches den idealen Nährboden für Denunziation darstellt.

Political Correctness hat keine andere Funktion, als sich für Gegner unangreifbar zu machen, über die tatsächliche Haltung sagt sie absolut nichts aus. Es ist nur ein sprachlicher Trick, sich öffentlich als jemand darzuzustellen, der auf der einzig richtigen Seite steht. Denn die öffentliche Verwendung von Gendersternchen stellt noch keine Garantie dafür dar, dass die Betreffenden sich im Privaten nicht doch höchst abfällig über Frauen auslassen. Genauso wenig wie die öffentlich wirksame Empörung über Begriffe wie "Indianer" oder "Negerkuss" noch keine Garantie dafür darstellt, dass die Betreffenden nicht doch völlig desinteressiert an der Situation von ethnischen Minderheiten sind.

Was soll das Ganze also? Es ist nichts anderes als ein kläglicher Versuch, schwierige und gravierende Probleme auf banale Art zu lösen. Gleichzeitig ist es aber ein höchst gelungener Versuch, sich auf äußerst bequeme Art unangreifbar zu machen. Das hat schon im Mittelalter bei der Hexenverfolgung funktioniert - man denunziert und bestraft andere, um sich selbst zu schützen und unangreifbar zu machen. Man muss aber gar nicht so weit zurückgehen in der Geschichte, auch die totalitären Systeme der jüngeren Vergangnenheit haben sich diesen Mechanismus zunutze gemacht.

Schlusswort: ich bin froh, dass ein schwarzer Bekannter die empörte Reaktion auf die Verwendung des Wortes "Negerkuss" als übertrieben und als "typisch deutsch" bezeichnet hat. Genauso froh bin ich, dass ein schwuler Bekannter mir sagte, er hätte sich über den Film "Der Schuh des Manitu" totgelacht. Last-not-least kann ich als Frau nur sagen, dass es mich fürchterlich nervt, wenn mir jemand von Sozialarbeiter:innen oder Hamburger:innen erzählt, denn ich bin intellektuell durchaus in der Lage, zu erfassen, dass mit dem generischen Maskulinum definitiv beide Geschlechter umfasst (nicht nur mitgemeint) werden. Was übrigens nicht heißen soll, dass mir alle sprachlichen Entgleisungen egal sind. Im Gegenteil - wenn ich einige RAP-Texte höre, die Gewalt gegen Frauen oder Schwule regelrecht bejubeln, bin ich einfach nur darüber geschockt, dass man dafür sogar Echos bekommt. Aber das ist ein anderes Thema...



Mittwoch, 28. April 2021
Das tiefe Verlangen, die Augen vor Leid zu verschließen
Immer wieder beschäftigt mich die Frage, ob es tatsächlich möglich war, dass die Deutschen nichts von der Vernichtung der Juden gewusst haben. Bei Lesen von Elie Wiesels Biographie "Alle Flüsse fließen ins Meer" hat mich eine Schilderung sehr bewegt. Es geht um den jüdischen Küster Mosche, der bereits selbst in einem KZ interniert gewesen war und der vergeblich versuchte, seine jüdische Gemeinde zu warnen. Aber niemand war bereit, sich seine Schilderungen anzuhören:

"Einem einzigen gelang es zu entkommen: Mosche dem Küster. Stumpfsinnig und mit irrem Blick erzählte er von haarsträubenden Dingen: Alle Abgeschobenen (zu dieser Zeit nannte man sie noch nicht Deportierte) waren massakriert und nackt in Panzergräben bei Kolomea, Stanislau und Kamenez-Podolski verscharrt worden. Er erzählte von der Grausamkeit der Schlächter, vom Todeskampf der Kinder, vom Sterben der Greise. Man schenkte ihm keinen Glauben. Die Deutschen sind doch Menschen, hieß es, auch wenn die Nazis Unmenschen sind. Je mehr Mosche sich bemühte, die anderen zu überzeugen, desto weniger nahmen sie ihn ernst. Sie bemitleideten sein Schicksal: Der Ärmste, hieß es, er muß viel erlitten haben, vielleicht zu viel, und jetzt weiß er nicht mehr, wovon er spricht. Er regte sich furchtbar auf: "So hört mich doch an, ich schwöre, daß ich euch die Wahrheit sage! Ich schwöre es bei meinem Leben! Bei eurem Leben! Wenn ich lüge, warum bin ich dann allein hier? Wo ist meine Frau geblieben? Wo sind meine Kinder? Warum sind sie nicht mit mir zurückgekehrt? Und meine Freunde, eure einstigen Nachbarn, wo sind sie? Ich sage euch: Sie sind alle umgebracht worden. Wenn ihr mir nicht glauben wollt, so habt ihr selber den Verstand verloren!" Der Ärmste, hieß es, er faselt wirres Zeug. "Ich sage euch, ihr seid die Wahnsinnigen!" schleuderte er ihnen wütend entgegen. "Was dort mit uns geschehen ist, wird euch eines Tages hier heimsuchen! Und ihr seht weg! Wenn ich lüge, warum spreche ich dann jeden Morgen und jeden Abend das Kaddisch? Und warum antwortet ihr mir mit einem Amen, warum?" Tatsächlich betete er morgens und abends. Er ging zu allen Gottesdiensten, lief von Synagoge zu Synagoge und versuchte überall, ein Minjan zusammenzubekommen, um immer noch ein Kaddisch mehr beten zu können. Aber seine Klagen stießen auf taube Ohren. Ich hörte ihm zwar zu und betrachtete sein fiebriges Gesicht, wenn er seine Qualen beschrieb, aber mein Verstand sträubte sich, ihm zu glauben, obwohl ich ihn gern hatte und ihm häufig Gesellschaft leistete. Galizien liegt nicht am anderen Ende der Welt, sondern nur wenige Stunden von hier entfernt, sagte ich mir. Wenn es stimmte, was er erzählt, wüßte man doch davon".

(...) "Ich danke euch, Reb Schloime, daß ihr mich eingeladen habt. Alle haben mich vergessen. Sie fürchten sich vor mir. Ihr allein habt keine Furcht. Und daher habe ich ein Geschenk für euch: Ich will euch erzählen, was euch erwartet. Ich schulde es euch." Alle starren auf seine spröden Lippen. Nur meine kleine Schwester, die brav auf dem Schoß meines Vaters sitzt, so sanft und anmutig, so schön und ernst, daß es einem das Herz zerreißt, hält sich die Hand vor die Augen, als müßte sie ein quälendes Bild vertreiben. Mein Vater tröstet sie und streichelt ihr übers Haar "Nicht jetzt" sagt er zu Moischele dem Küster. "Deine Erzählungen sind traurig, und das Gesetz verbietet uns, am Abend vor Pesach traurig zu sein." Mosche besteht darauf: "Es ist wichtig, sehr wichtig. Ihr habt keine Ahnung, was euch erwartet. Ich weiß es. Warum wollt ihr mir nicht zuhören, Reb Schloime? Es geht um euer aller Zukunft." Mein Vater wiederholt: "Nicht jetzt, Reb Mosche, nicht jetzt. Ein andermal." Schweigend und mit gesenktem Kopf beenden wir die Mahlzeit. Wir sprechen den Segen. Als wir uns vom Tisch erheben und die Tür öffnen, um mit dem Kelch in der Hand den Propheten Elias zu empfangen, macht sich unser Gast aus dem Staub. Es sollte mein letztes Pesssach-Fest sein- mein letztes Fest überhaupt -, das ich zu Hause feierte. Und die Schwermut dieses Abends lastete auf allen Festen , die ich später feierte
".


Elie Wiesel (1928-2016) aus "Alle Flüsse fließen ins Meer"



Mittwoch, 7. April 2021
Kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?
"Rabbi", wollte ich wissen, "wie können Sie nach Auschwitz noch an Gott glauben?"

Er hatte die Hände auf den Tisch gelegt und betrachtete mich lange und schweigend. Dann antwortete er mit leiser, kaum hörbarer Stimme: "Und wie können Sie nach Auschwitz nicht mehr an Gott glauben?" Ich dachte eine Weile darüber nach, was er gesagt hatte. An wen sonst könnte man denn glauben? Hat nicht der Mensch in Auschwitz seine Rechte und Pflichten für immer aufgegeben? Bedeutet Auschwitz nicht die Niederlage der Menschheit, das endgültige Scheitern der Gesellschaft? Was bleibt uns außer Gott in einer Welt, die restlos von der Finsternis von Ausschwitz beherrscht wird? Der Rabbi sah mich an und wartete auf meine Antwort. Und ich schaute ihm ins Gesicht, als ich schließlich sagte: "Rabbi, wenn das, was Sie sagen, eine Antwort auf meine Frage ist, dann weise ich sie zurück. Wenn es aber eine Frage ist, eine Frage mehr sozusagen, dann nehme ich sie an." Ich bemühte mich zu lächeln, doch es gelang mir nicht.

Elie Wiesel (1928-2016) in "Alle Flüsse fließen ins Meer" im Dialog mit Rabbi Menachem Mendel Schneersohn (letztes Oberhaupt der Lubawitscher Bewegung)