Mittwoch, 25. März 2020
Nichts ist mehr wie zuvor
30.03.2020
"Ein guter Verschwörungstheoretiker lässt sich nicht von Fakten ablenken"
David Kriesel

Es gibt wohl kaum einen Spruch, der die momentane Situation so gut erfasst wie dieser. Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, angesichts von Problemen seine Energie nicht in deren Lösung zu investieren, sondern in der Suche nach Schuldigen. "Der Staat wartet nur darauf, uns endlich mit Notstandsgesetzen kleinzuhalten". Die Anhänger dieser absurden These bleiben die Erklärung schuldig und so werden wir nie wissen, worin denn nun der Vorteil für den Staat bestände, wenn Notverordnungen erlassen werden. Letztendlich kostet der wirtschaftliche Stillstand den Staat später Milliarden, warum sollte der Staat, der ja ansonsten auf seinem Geld sitzt, das in Kauf nehmen?

Es gibt ja auch Menschen, die behaupten, es hätte nie eine Mondlandung gegeben. Aber hinter dieser Behauptung steht zumindest eine Erklärung: die Amerikaner wollten damit ihre Vormacht in der Welt und im Universum demonstrieren.

Die exponentiell steigenden Zahlen machen mir große Angst. Und genauso viel Angst macht mir die Dummheit vieler Menschen, die ihre Ohnmacht mit Verschwörungstheorien kompensieren. Hobbyvirologen, die meinen es reiche aus, sich Youtube-Videos von irgendwelchen Influencern anzusehen um dann ihren Senf zu einem Thema abzugeben, dessen Komplexität schon für renommierte Wissenschaftler eine Herausforderung darstellt.

25.03.2020
Seit einer Woche ist nichts mehr wie zuvor. Auch wenn der Begriff der Pandemie schon Anfang des Jahres durch die Medien geisterte, so war doch die ganze Thematik sehr, sehr weit weg. Aber dann kam vor etwa zehn Tagen die Anweisung meines Arbeitgebers, dass unsere Psychosoziale Begegnungsstätte geschlossen wird und jeglicher Kontakt zu den Klienten möglichst zu vermeiden ist. Auch bei mir hat es noch etwas gedauert, bis ich den Ernst der Lage wirklich realisiert habe, denn an den ersten beiden Tagen ging ich noch zur Arbeit. Dann kam es allerdings Knall auf Fall und die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein.

Ich schwanke in meinem Befinden zwischen Gefasstheit und Angst. Wobei ich ausdrücklich betone, dass es mir nicht um meine eigene persönliche Situation geht – ich habe durch die Möglichkeit von Homeoffice einen relativ sicheren Arbeitsplatz, ich muss keine Familienmitglieder versorgen, bin relativ gesund, habe ein paar Ersparnisse für Notfälle und ich bin außerdem nicht allein, sondern habe meinen Lebensgefährten an meiner Seite. Aber ich sehe mit großer Besorgnis, in was für Abgründe andere Menschen fallen können. Menschen, wie die vielen Obdachlosen, die es hier und anderswo gibt, Menschen, die aufgrund von Krankheit und Gebrechlichkeit auf Hilfe angewiesen sind und die vielen Flüchtlinge, die in Massenunterkünften leben.

Da ich ein ziemlich pessimistischer Mensch bin, habe ich die Möglichkeit einer Massenepidemie oder eines Krieges nie ausgeschlossen. Aber wenn Gedanken dann plötzlich Wirklichkeit werden, fühlt es sich völlig anders an. Manchmal platzt mir der Kopf und ich werde daher wieder ein wenig öfter Beiträge schreiben.



Sonntag, 8. März 2020
Internationaler Frauentag – ein Statement aus dem Jahr 1978 und ein Aufruf aus dem Jahr 2020
1978:
„Wenn ein Ausländer auf der Straße zusammengeschlagen wird, ist das Politik.
Wenn eine Frau in ihrer Wohnung mißhandelt wird, sind das Privatschwierigkeiten, Beziehungsstörungen.
Wenn ein Arbeiter kein Mitspracherecht hat bei der Produktion, ist das Politik.
Wenn Frauen kein Mitspracherecht haben über ihr eigenes Leben, sich nicht wegzulaufen trauen, weil sie nirgends hinkönnen, weil sie Angst haben vor seiner Rache oder daß ihnen die Kinder weggenommen werden, dann ist das privat.“
:
Anja Meulenbeult (*1945) aus „Die Scham ist vorbei“ (1978).

2020:
„Wer die Nutte ran bringt, 2000 Euro, Berlin-Charlottenburg.“:
Rapper „Fler“ (*1982) auf Instagram (2020)

Dieser Aufruf wurde von dem Rapper „Fler“ auf Instagram veröffentlicht und bezog sich auf eine junge Frau, die unter dem Hashtag „#unhatewomen“ aus seinen Texten zitierte, dem Aufruf wurde ein Foto der Frau beigefügt. Das Hashtag ist Teil einer Kampagne der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, in der Texte aus Rap-Songs zitiert werden, die Gewalt gegen Frauen verharmlosen und propagieren.

Hat sich in den über vierzig Jahren etwas für Frauen verändert? Ja, es hat sich erheblich etwas verändert, denn im Gegensatz zum Jahr 1978, in welchem Frauen zwar für ihr Engagement heftigst kritisiert wurden, belässt man es im Jahr 2020 nicht mehr mit Kritik, sondern es wird eine mit übelster Gewalt verbundene Hetzjagd veranstaltet.

Was hat das jetzt mit dem Zitat von Anja Meulenbelt zu tun? Muss man eigentlich nicht erklären, denn diese Welle von Gewalt gegen Frauen wird auch im Jahr 2020 immer noch als ein Privatproblem kleingeredet. Während bei Gewalt gegen Migranten binnen weniger Stunden eine Großdemo und ein Solidaritätskonzert veranstaltet wird, folgt auf Gewalttaten gegen Frauen nur ein Schulterzucken. Ja – natürlich muss es Reaktionen auf Gewalt gegen Migranten geben, es stellt sich nur die Frage, warum grundsätzlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass es für die Hetzjagd auf Frauen Sylvester 2015/2016 ein Solidaritätskonzert gab, obwohl Hunderte von Frauen betroffen waren und die Angriffe zeitgleich in mehreren Städten (auch außerhalb Deutschlands) stattfanden. Eine wirklich sehr spannende Frage…

Ich glaube, viel mehr muss man nicht sagen zur Bedeutung des Internationalen Frauentags.



Dienstag, 28. Januar 2020
Heute vor 75 Jahren
Ich bin mit meinen Gedanken in Auschwitz. Und wie immer bin ich dabei fassungslos, denn man kann es nicht erfassen, was dort geschah. Gleichzeitig verspüre ich eine tiefe Hochachtung vor den Holocaustüberlebenden, die es sich zumuten, nochmals an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren, um zu mahnen und zu erinnern. Und dabei berührt es mich immer wieder zutiefst, wie wenig Hass diese Menschen zeigen und dabei sogar auch noch oftmals darauf hinweisen, dass es Unterschiede zwischen den SS-Offizieren gab und nicht jeder ein Monster war. Ich hätte diese Großmut sicher nicht. Aber dies ist wohl auch der Grund meiner Bewunderung für die Holocaustüberlebenden – die Fähigkeit, sich sogar im Angesicht schlimmster Unmenschlichkeit und größten Leidens Menschlichkeit zu bewahren.

Das Massenmorden in Auschwitz war nur möglich, weil die Bevölkerung in einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Obrigkeitsdenken kollektiv weggesehen hat. Hier müssen wir ansetzen, wenn es darum geht, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Und wenn uns das wirklich ernst ist, kommen wir nicht umhin, unsere Augen in alle Richtungen offenzuhalten. Antisemitismus gibt es nicht nur in der rechten Szene, sondern auch in linken Kreisen und unter Muslimen. Wenn Juden in Neukölln keine Kippa mehr tragen können, ohne tätliche Angriffe zu riskieren und wenn Linke offen zum Waren- und Kulturboykott Israels aufrufen, ist das nicht weniger schlimm, als wenn die AFD den Naziterror als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ verharmlost. Es ist höchst besorgniserregend, wie sich in Deutschland eine Tendenz zur Relativierung des Antisemitismus etabliert.

Es mag unbequem sein, den Blick auch auf diejenigen zu richten, die selbst auch oft Diskriminierungen ausgesetzt sind, oder die für sich in Anspruch nehmen, die einzig wahren Verteidiger von Minderheiten zu sein. Bei beiden riskiert man, sofort in die rechte Ecke gestellt zu werden. Aber dies Unbequemlichkeit muss man sich zumuten.