Es gibt Dinge, die hätte ich als Teenager für völlig unmöglich gehalten. Es geht um Dinge, die hart erkämpft wurden und von deren ewiger Existenzberechtigung ich damals felsenfest überzeugt war, aber die jetzt immer öfter in Frage gestellt werden.
Als ich Kind war, gab es noch den sogenannten Kuppeleiparagraphen, der es unter Strafe stellte, wenn ein unverheiratetes Paar gemeinsam in einer Wohnung nächtigte. Kein Sex ohne Heirat – und falls doch, dann musste zumindest ein Verlobungsring vorhanden sein, was jedoch noch keine Garantie darstellte, sondern vom Wohlwollen des Vermieters oder Hotelbesitzers abhing. Wobei betont sei, dass die gesellschaftliche Beurteilung gegenüber Männern weitaus milder ausfiel als gegenüber Frauen. Das wurde unter anderem deutlich an dem merkwürdigen Gesetz des sogenannten „Kranzgeldes“, bei dem es sich um eine finanzielle Entschädigung handelte, die einer „unbescholtenen“ Verlobten von ihrem Verlobten gezahlt werden musste, falls es doch nicht zur Heirat kam und sie keine Jungfrau mehr war, wodurch sie quasi an „Wert“ eingebüßt hatte. Homosexuellen ging es noch schlechter, denn bis Ende der Sechziger Jahre gab es den Paragraphen 175, der Homosexualität unter Strafe stellte.
Im Schulsystem sah es auch nicht viel besser aus, auf den Haupt- und Realschulen gab es bis Mitte der Siebziger tatsächlich noch die Aufteilung in Koch- und Werkunterricht, der selbstverständlich nicht frei gewählt werden konnte, sondern durch die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt wurde. Meine Schwester besuchte noch ein sogenanntes Mädchengymnasium, in dem es keine Jungen gab. Berufsausbildungen waren in vielen Bereichen stark nach Geschlechtern getrennt (was übrigens auch jetzt noch der Fall sein kann). Es gab keine Malerinnen, Tischlerinnen oder Automechanikerinnen und auf der anderen Seite gab es für typisch weibliche Berufe wie Kindergärtnerin oder Arzthelferin noch nicht einmal eine männliche Bezeichnung.
Aber dann ging ein Ruck durch die Bundesrepublik und es wurde heftig und lautstark gekämpft sowohl gegen die starren Geschlechtsrollen als auch gegen die sexuelle Zwangsmoral. Ich selbst war in den Anfängen dieser Zeit noch ein Kind, aber als Teenager habe ich bereits profitiert von dem gewaltigen gesellschaftlichen Umschwung. Vieles fiel dabei nicht in den Schoß und musste hart erkämpft werden. Als Mädchen abends oder sogar nachts allein auszugehen war beispielsweise längst nicht selbstverständlich und war nicht selten mit Hausarrest oder Schlägen verbunden. Dennoch haben sich die meisten Mädchen und junge Frauen davon nicht abschrecken lassen. Denn ist ging um nicht mehr und nicht weniger als um das Recht auf Selbstbestimmung.
Hätte mir damals jemand gesagt, dass die hart erkämpften Rechte jemals wieder in Frage gestellt werden würden, dann hätte ich ihm nie und nimmer geglaubt. Wäre mir damals beispielsweise davon erzählt worden, dass es Jahrzehnte später allen Ernstes wieder Eltern gibt, die ihren Töchtern die Teilnahme an Klassenfahrten oder am Schwimmunterricht verbieten, hätte ich demjenigen einen Vogel gezeigt. Was ich mit absoluter Sicherheit für einen Witz gehalten hätte, wäre der Umstand, dass man sich im Internet künstliche Jungfernhäutchen bestellen kann. Und es hätte in mir entsetzte Ungläubigkeit ausgelöst, dass es Mädchen gibt, die von ihren Brüdern zusammengeschlagen werden, wenn sie selbstbestimmt leben wollen. Den Begriff des „Ehrenmordes“ hätte ich damals überhaupt nicht verstanden (was heute nicht unbedingt anders ist), da ein Mord definitiv nichts mit Ehre zu tun haben kann. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass es einmal einen Silvesterabend geben würde, an dem sich Männer zusammenrotten, um Frauen wie Vieh in die Enge zu treiben und sexuell zu missbrauchen, dann hätte ich dies für einen geschmacklosen Scherz gehalten. Als genauso abwegig hätte ich es empfunden, dass es einen Mordaufruf zur Folge haben könnte, wenn ein Schriftsteller in literarischer Freiheit über die homosexuellen Gefühle eines Religionsstifters schreibt.
Ich war wohl sehr naiv in meinem Glauben, dass gesellschaftliche Errungenschaften wie Gleichheit und Selbstbestimmung nicht so einfach in Frage gestellt werden können. Ja, es stimmt – wir haben eine Bundeskanzler
in und sogar eine Verteidigungsminister
in und an den Hochschulen studieren in vielen Fachbereichen mittlerweile sogar mehr Frauen als Männer. Aber was ändert dies daran, dass jetzt wieder Geschlechterapartheit gefordert wird und das Recht auf die weibliche Selbstbestimmung in Familie, Ausbildung und Öffentlichkeit mit allen Mitteln verteufelt wird?
Wollen wir wirklich wieder in diese dunklen Zeiten zurück? Bestimmte Menschen scheinen genau dies zu wollen. Vielleicht könnte ich dies noch verstehen, denn wenn man über die eigenen Grenzen hinausschaut, wird offensichtlich, wie viele Menschen diese Wertsysteme vertreten und niemand kann sich anmaßen, zu bestimmten, welche Wertsysteme denn nun die besten sind. Allerdings werde ich nie verstehen, warum jetzt ausgerechnet diejenigen Verständnis für den Rückschritt zu den alten Zeiten einfordern, die bisher vehement freiheitliche Werte verteidigt haben. Dieselben Menschen, die früher vehemt gegen Geschlechterapartheit und sexuelle Zwangsmoral gekämpft haben, verharmlosen diese jetzt im Namen der Toleranz. War das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wirklich nur eine Episode?
Um Frage der Überschrift dieses Beitrags zurückzukommen, was übrig blieb vom Feminismus, so könnte es bald vielleicht nicht viel mehr sein, als eben die Bundeskanzler
in und die Verteidigungsminister
in. Wir werden höchstwahrscheinlich nicht so enden, wie in
Michel Houellebecqs “Unterwerfung”, aber wir sind aus vielerlei Gründen ähnlich mit ideologischer Blindheit geschlagen, wie es von ihm beschrieben wird.